Wenn ich einige Minuten Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen durfte, so möchte ich Ihnen etwas über das abwechslungsreiche Leben von Georg Dettmann erzählen. Und wenn dieser Name bekannt zu sein scheint, ist das eigentlich kein Wunder. Vor vier Jahren wurden nämlich Georg und seine Frau Eva in aller Welt berühmt. Das war nach einer dramatischen Flucht aus der DDR in einem aus zusammengenähten Betttüchern konstruierten Warmluftballon.
Dettmann, der Sohn eines Bauern, wurde am 3. Oktober 1952 im mecklenburgischen Dorf Grimmen geboren, das etwa 20 Kilometer südlich von der alten, einmal schwedischen Stadt Stralsund liegt. Seine Kindheit verbrachte er auf einer kooperativen Landwirtschaft, wo er von dem städtischen Wohngedränge der fünfziger und sechziger Jahre verschont blieb. Schon als Baby wurde er doch alltäglich in einem kleinen Kindergarten gelassen, weil die beiden Eltern für den Aufbau des neuen Staates arbeiten mussten. Ja, wenn er auch ein bisschen zu klein war, das alles richtig zu verstehen, lernte Georg bald die väterliche Gestalt des bärtigen Walter Ulbricht kennen, dessen Foto überall erschien, sogar hinter der Verkäuferin im Zeitungskiosk an der Straßenecke.
Vom siebten bis achtzehnten Lebensjahr musste Georg mit dem Bus nach Greifswald fahren, um in die Schule zu gehen. Der Vater erwartete, dass sich sein Junge auch einmal für die Bauernwirtschaft interessieren würde, aber diese Hoffnung erfüllte sich nie. Obwohl Georg an den Wochenenden zu Hause behilflich war, hatte er ziemlich früh ganz andere Pläne für seine Zukunft. Vor allem waren es die Wissenschaften, die ihn faszinierten, und er hatte eine ganz besondere Vorliebe für Fotoapparate.
Für die Politik interessierte er sich nicht; mit so langweiligen Dingen könnten sich andere Leute beschäftigen! Zwar hatte er sich gezwungen gefühlt, Mitglied der FDJ zu werden, und dadurch der Republik seine „unbedingte Treue“ versprochen, aber das Weltbild seiner Erzieher hielt er für allzu polarisiert. Dann und wann hörte er aus Neugier den Deutschlandfunk aus Köln, doch die Mutter war immer der Ansicht, dass jede Stimme nur Propaganda für sich selbst mache, und dass das in der deutschen Geschichte immer so gewesen sei. Der Vater, der aus dem Süden des alten Deutschlands stammte, sehnte sich Tag und Nacht nach einem Dörfchen, das seit der Spaltung Europas nicht mehr erreichbar war.
1970 verließ der achtzehnjährige Abiturient das Elternhaus in Grimmen, um an einer Dresdner Hochschule Fototechnik zu studieren. Sein Ziel war eine Karriere in der jetzt blühenden Kameraindustrie der DDR, und nach einer zwei Jahre lange Ausbildung erhielt er eine Stelle im VEB Pentacon, dessen Fabrik ganz in der Nähe von der Schule lag. Im Produktenentwicklungslaboratorium, das er schon vorher als Student besucht hatte, fand er sich bald zurecht.
Eines Tages, als er durch die Fabrikanlage mit zwei sowjetischen Genossen wanderte, lernte er seine künftige Frau Eva Karnatz kennen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass es sich zwischen diesen beiden um Liebe auf den ersten Blick handelte. Eva arbeitete als Monteurin von Fotoapparaten namens Praktika; sie war noch auf Probe angestellt und achtzehn Jahre alt. An dem Tage ihres Treffens hätte Georg nicht einmal davon träumen können, dass sein Verhältnis zu diesem Mädchen so weitgehende Konsequenzen für sie beide haben würde. Es war erst später, als er sich nach ihren Eltern erkundigte, dass ihm das klar wurde. Sie erzählte ihm, dass ihr Vater zehn Jahre früher bei einem Fluchtversuch erschossen worden sei. Dabei habe sie in seinen Armen gelegen, weil sie durch ein Minenfeld hätten gehen müssen. Das sei ihre eigene Rettung gewesen; ihr Vati habe sie mit dem eigenen Körper geschützt. In der Zwischenzeit sei es jedoch ihrer Mutter gelungen durchzukommen. Sie wohne nun im Jahre 1972 noch allein in Karlsruhe.
Georg war erschüttert, auf einmal furchtbar traurig und sehr böse. Diese Gefühle machten die ersten Samen von Unzufriedenheit aus, eine Unzufriedenheit, die sich während der folgenden Jahre zu einem ungehemmten, fast leidenschaftlichen Hass gegenüber dem neu entdeckten Gefängnis entwickeln sollte. 1976, als Georg und Eva schon drei Jahre verheiratet waren, wurde er von seinen Arbeitsgenossen ins Team gewählt, das den Betrieb Pentacon auf der Leipziger Messe vertreten sollte. Dort in Leipzig was es, wo er infolge einer französischen Ausstellung, in der ein Plakat mit Jules-Verne-Motiv gezeigt wurde, auf die wahnsinnige Idee kam, einen eigenen Warmluftballon zu machen, um damit über irgendeine unbewachte doch minierte Grenze mit Eva in den Westen fliegen zu können. Tausendmal gab er den Plan auf, tausendmal betrachtete er ihn als undurchführbar, aber schließlich siegte der Gedanke an Erfolg, den er einfach nicht loswerden konnte. Auch Eva ließ sich überreden. Vielleicht würde sie trotz allem ihre liebe, einsame Mutter wiedersehen können.
Heute halten wir das Fazit in der Hand. Am Abend des 14. Oktober 1979 wurde das konkrete Ergebnis ihres gemeinsamen Fleißes und ihrer dreisten Fantasie in einem Firmenfahrzeug nach einem Ort ganz in der Nähe der abgesperrten Letzlinger Heide geführt. Der Ballon bestand aus fünfzig äußerst sorgfältig zusammengenähten dunkelfarbigen Doppelbetttüchern, einem Gasbrenner, Seilen, und einem alten Hotelwäschereikorb groß genug, dass die beiden bequem darinsitzen konnten. Nun hing das ganze Projekt nur vom Wind ab, den die Wetterpropheten als östlich angekündigt hatten. Dieser blieb, Gott sei Dank, nicht aus. Kurz nach zwei Uhr morgens am 15. Oktober 1979 machte das Ehepaar eine erfolgreiche Landung in der Bundesrepublik. Die große, weite Welt lag vor ihrem Füssen und sie konnten vor Freude weinen.
Die Handlung sowie die handelnden Personen sind frei erfunden.
Alle Namen, Persönlichkeiten, Firmennamen, Orte und Ereignisse
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